22

 

Der erfolgreiche Geschäftsmann gleicht einem Pokerspieler. Entweder verheimlicht er seine Gefühle, oder er zeigt falsche Emotionen, sodass seine Empfindungen nicht gegen ihn ausgenutzt werden können.

Aurelius Venport,

Das Vermächtnis unserer Ökonomie

 

 

Fast zwei Wochen lang brachte Vorian die Dream Voyager auf eine Beschleunigung, die eigentlich nur ein Roboter hätte überstehen dürfen, aber er war fest entschlossen, bei der Überbringung so lebenswichtiger Mitteilungen an die Liga keine Zeit zu vergeuden. Sein ganzer Körper schmerzte, aber er wusste, dass mit jedem Moment, der verstrich, zahllose Seuchenkranke starben.

Selbst wenn er nur ein einziges Leben hätte retten können, indem er die Geschwindigkeit des Raumschiffs bis an die äußerste Grenze seiner körperlichen Belastbarkeit steigerte, wäre dieser kleine Erfolg ihm wichtiger gewesen als seine vorübergehenden Qualen. Agamemnon persönlich hatte ihn diese Lektion gelehrt, als er ihn der Lebensverlängerungsbehandlung unterzogen hatte: Schmerz war ein geringer Preis für das Leben.

Während des langen Fluges traten bei ihm keine Beschwerden oder Symptome der Krankheit auf. Er bemerkte an sich keine der Anzeichen, vor denen Raquella ihn gewarnt hatte. Das bedeutete, dass er nach ihrem Wissensstand gegen die Seuche immun war. Also konnte er sich getrost seinen dringenden Aufgaben widmen, ohne befürchten zu müssen, dass er die Geißel weitertrug, und ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit.

Vorian änderte den Kurs so, dass er einen kurzen Abstecher nach Kolhar und den VenKee-Raumschiffswerften machen konnte. In Anbetracht der Umstände hielt er es für richtig, sich unmittelbar an die wichtigsten Gewürzdistributoren zu wenden. Raquellas Entdeckung war von außerordentlicher Tragweite.

Voller Trauer, aber ohne überrascht zu sein, erfuhr er während des Anflugs auf Kolhar aus den Nachrichtensendungen, dass die Epidemie inzwischen auch auf anderen Liga-Welten ausgebrochen war. Omnius streute die Seuche mit grausamer Effizienz aus, infizierte Planet um Planet, obwohl die Liga alle Anstrengungen unternahm, die Ausbreitung zu verhindern. Verhängte man eine Quarantäne, geschah es in den meisten Fällen nicht schnell genug; und hielten die Vorkehrungen die Seuche innerhalb der planetaren Grenzen, war wenigstens die Hälfte der Bevölkerung dem Tode geweiht.

Nur Vorian konnte neue Hoffnung bieten, doch ob sie tatsächlich Abhilfe schuf, hing von VenKees Kooperationsbereitschaft ab. Wer Gewürz konsumierte, konnte der Ansteckung besser widerstehen.

VenKee hatte praktisch das Monopol auf den Melange-Vertrieb, da die Bezugsquellen und Verarbeitungstechniken Betriebsgeheimnis waren. Ähnliches galt für den Einsatz der riskanten Faltraumschiffe des Unternehmens im kommerziellen Transportwesen. In Vorians Geist fügte sich alles zusammen: Um die rasante Verbreitung des Virus zu stoppen, war es dringend notwendig, die medizinischen Hilfsgüter besonders schnell zu den befallenen Welten zu liefern, und dazu mussten Faltraumschiffe eingesetzt werden. Und das Gewürz ...

Vorian schwor sich, Kolhar nicht zu verlassen, bevor er erreicht hatte, was er wollte.

 

Zu guter Letzt ging Norma Cevna höchstpersönlich an Bord der Dream Voyager und begleitete Vorian Atreides nach Salusa. Sie hatte seine Ankunft vorausgesehen und mit sonderbarer, unerklärlicher Gewissheit darüber Klarheit gehabt, dass er wichtige Nachrichten brachte. Sie hatten kaum ein paar Sätze gewechselt, als Norma bereits über drei Punkte entschieden hatte: Dass die Situation kritisch war, dass das Gewürz für das Überleben der Menschheit eine eminente Bedeutung hatte und dass sie mit Vorian nach Salusa fliegen wollte, um vor dem Liga-Parlament das Wort zu ergreifen.

Bevor sie Kolhar verließ, ließ sie drei Faltraum-Kurierschiffe mit drei hoch bezahlten Söldnerpiloten besetzen und gab jedem eine umfangreiche Botschaft an den Djihad-Rat mit, damit sich die Neuigkeiten möglichst schnell verbreiteten. Wenn sie und Vorian Atreides auf Salusa eintrafen, sollten einige wesentliche Änderungen längst eingeleitet sein.

Des Weiteren veranlasste sie ihren Sohn Adrien, bei sämtlichen VenKee-Aktivitäten neue Schwerpunkte zu setzen, vor allem die Produktion und Distribution des Gewürzes maximal zu erhöhen. Dann folgte sie Atreides zu seinem schwarz-silbernen Raumschiff. »Bestimmt kann ich mich an Bord Ihres Raumschiffs besser als hier konzentrieren.« Sie deutete auf die Werftanlagen, wo man noch mit Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten beschäftigt war, weil kürzlich eine Explosion stattgefunden hatte. »Wir sollten so schnell wie möglich starten.«

Vorian Atreides beließ es zunächst bei mäßiger Beschleunigung, doch nachdem Norma beteuert hatte, ihr Körper könnte stärkere Belastungen als seiner verkraften, jagte Vorian die Dream Voyager von neuem auf schonungslose Geschwindigkeiten hoch. Auf direktem Vektor nach Salusa Secundus schoss das Update-Raumschiff zum Sonnensystem hinaus.

Unterwegs beschäftigte sich Norma, umgeben von Notizen, elektronischen Zeichenflächen und sonstigen Materialien aus ihrem Büro, mit Nachdenken und Berechnungen. Merkwürdig war jedoch, dass sie diese Utensilien gar nicht brauchte. Stattdessen nahm sie gewaltige Mengen von Informationen auf, begab sich mit ihnen auf eine Reise ins Innere ihres Geistes und verarbeitete sie allein mit dem Verstand, ohne jegliche Hilfsmittel. Sie hatte den Eindruck, dass ihre mentale Kapazität über alle vorstellbaren Grenzen hinauswuchs.

Vorian bemerkte es kaum, dass er während des Fluges eine menschliche Begleiterin hatte, aber er war es ohnehin gewöhnt, allein zu fliegen. In den vielen stillen, langweiligen Stunden erinnerte er sich sehnsüchtig an die Zeit, als er noch Seurat begleitet hatte. Gerade im gegenwärtigen Klima des Krieges und der Pestilenz hätte Vorian die Zerstreuung, die ein paar unterhaltsame Spiele boten, sehr genossen; und selbst die plumpe Manier des Roboters, sich im Erzählen von Witzen zu versuchen, wäre jetzt eine nette Ablenkung gewesen.

 

Die Dream Voyager ruckelte, als sie an einem Mittag auf einem windigen Landefeld des Raumhafens von Zimia aufsetzte. Norma kehrte aus ihrer kreativen Trance in den Normalzustand zurück, blickte durchs Fenster ihrer Kabine nach draußen und sah die Hauptstadt. »Wir sind schon da ...?«

Auf dem Weg zum Parlamentsgebäude erfuhren sie und Vorian, dass sich die Epidemie unterdessen in Besorgnis erregendem Maß ausgebreitet hatte. Nicht einmal die besten Forschungsmediziner der Liga hatten eine Vorstellung, wie sie bekämpft werden könnte. Allerdings hatten Raquellas Angaben über die Wirkung der Melange, die inzwischen von den Faltraum-Kurieren übermittelt worden waren, eine beispiellose Nachfrage nach Gewürz zur Folge gehabt. Doch das bloße Wissen, dass es ein effektives Behandlungs-, wenn nicht gar ein Heilmittel war, bedeutete für all die Planeten, die keinen Zugriff auf ausreichende Melange-Vorräte hatten, noch keine Hilfe.

Norma hoffte, dass die Ausführungen, die sie dem Parlament vorzutragen beabsichtigte, die Lage änderten.

Durch einen mentalen Befehl optimierte sie ihre Erscheinung, vitalisierte das blonde Haar und glättete ihre Gesichtszüge. Obwohl äußerliche Schönheit ihr wenig bedeutete, solange ihr Körper gut genug funktionierte, um die Anforderungen zu erfüllen, die sie an ihn stellte, leistete sich Norma zu Ehren ihres verstorbenen Ehemannes diesen kleinen Bonus.

Während sie den gleichfalls blendend aussehenden Oberkommandierenden über die Freitreppe ins Parlamentsgebäude begleitete, sah sie recht deutlich voraus, welchen Platz sie in der künftigen Menschheitsgeschichte einnehmen sollte. Norma betrachtete sich selbst nur als flüchtige Erscheinung, bestenfalls als Luftzug, der eine Kerzenflamme zum Flackern brachte. Es war ihr gleichgültig, ob sich die Geschichte an sie erinnerte. Sie interessierte sich ausschließlich für ihre Arbeit. Und die Rettung von Menschenleben.

»Fühlen Sie sich bereit?«, erkundigte sich Vor. »Sie wirken auf mich ein bisschen entrückt.«

»Ich bin ... überall.« Sie blinzelte und richtete den Blick auf das hohe Gebäude, das vor ihnen aufragte. »Ja, ich bin hier.«

Während sie zum Gebäude gingen, eilte eine Gruppe gelb gekleideter Männer nach draußen, die einen Klarplaz-Behälter trugen, in dem ein körperloses Gehirn schwamm. Im Vorbeigehen streifte Norma es mit neugierigem Blick. Sie hatte nie persönlich mit einem der uralten Philosophenhirne zu tun gehabt, aber ihre Mutter Zufa hatte ihr vom obskuren Treiben der Kogitoren erzählt.

»Das ist Vidad, einer der Elfenbeinturm-Kogitoren«, sagte Vorian Atreides mit merklichem Widerwillen in der Stimme. Durch den Rundbogen des Eingangsportals führte er Norma in die hallenden Räume, in denen es vor Geschäftigkeit wimmelte. »Diesmal werde ich es nicht dulden, dass sie sich einmischen, wie sie es damals mit ihrem albernen Friedensvermittlungsplan getan haben.«

Nachdem Serena sich geopfert hatte, um das Unheil abzuwenden, das die Elfenbeinturm-Kogitoren angerichtet hatten, war Vidad über ein halbes Jahrhundert lang auf Salusa Secundus gewesen, um historische Aufzeichnungen und neuere philosophische Denkmodelle zu studieren. Gleichzeitig hatte er sich als Störenfried betätigt, sich immer wieder in die Angelegenheiten des Djihad-Rats eingemischt. Atreides wünschte sich, er würde zu seinen Kameraden auf dem Eisklumpen Hessra zurückkehren.

Als sie den Parlamentssaal erreichten, hatte der Große Patriarch Xander Boro-Ginjo bereits den Vorsitz übernommen, um den Hals die protzige, verzierte Amtskette, die das augenfällige Symbol seiner Stellung als spiritueller Führer der Liga-Bevölkerung galt. Neben ihm saß der hoch aufgeschossene, hagere kommissarische Viceroy O'Kukovich. Obwohl er vorgeblich das politische Oberhaupt der Liga der Edlen war, besaß der Mann kaum wirkliche Macht. Er war nur ein Lückenbüßer, der Kitt in einem Loch.

Vor und Norma nahmen ihre reservierten Plätze in der ersten Sitzreihe ein. Ihre Ankunft erregte spürbares Aufsehen, obwohl das Parlament schon seit längerem tagte und über die sich rasch ausbreitende Geißel debattierte. Bisher waren fünfzehn Planeten betroffen, und man hegte die Befürchtung, dass jederzeit weitere schlechte Neuigkeiten eintreffen konnten. Mittlerweile hatte der Djihad-Rat extreme militärische Maßnahmen vorgeschlagen, um auf Salusa Secundus Ansteckungsfreiheit und Sicherheit zu gewährleisten.

Vorian Atreides studierte die Tagesordnung, eine lange Namensliste von Wortmeldungen, allesamt mit Vermerk dringend. Er seufzte auf und lehnte sich im Sitz zurück. »Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern.«

Norma hörte Panik in den Stimmen der Redner und erkannte sie in ihren Mienen. In der Nähe unterhielten sich mehrere Parlamentarier in nervösem Flüstern. Obwohl sie im Hintergrund ihres Geistes ihre Überlegungen und Berechnungen fortsetzte, gewann Norma anhand der eindringlichen Darstellungen, die unablässig vorgetragen wurden, bald eine Vorstellung vom Ausmaß der Katastrophe. Auf Salusa Secundus gab es bislang keinen Ansteckungsfall, und dem Parlament lag ein ernsthafter Vorschlag vor, eine totale Blockade zu verhängen, um die Bewohner des Planeten zu schützen.

Norma setzte sich auf, als sich die nächste Rednerin ans Publikum wandte. Es war die Meisterin der Zauberinnen von Rossak, ihre Halbschwester Ticia Cevna. Ein Sturm der Leidenschaft schien durch ihr Alabastergesicht zu wehen, ein gar nicht vorhandener Wind an ihrem langen blonden Haar und dem knochenweißen Kleid zu zerren. Anfangs blickte Ticia nur stumm in die Zuhörerschaft, beeindruckte sie durch die bloße Bedeutsamkeit ihrer Anwesenheit.

Norma erwartete von ihrer Halbschwester kein Lächeln der Begrüßung, nicht einmal ein Nicken, dass sie sie zur Kenntnis genommen hatte. Trotz aller ungewöhnlichen Begabungen war ihre Familie völlig zerrissen, ihre Zweige lebten weit voneinander getrennt.

Jahrelang hatte ihre Mutter Norma als Missgeschick abgetan und sich vollständig auf ihr Wirken im Djihad konzentriert. Dank der besonderen Kräfte, über die sie als hervorragende Zauberin verfügte, hatte Zufa Cevna lange die Geburt einer vollkommenen Tochter vorausgesehen, doch als sie schließlich die rundum makellose Ticia gebar, hatte sich Norma über die kühnsten Erwartungen hinaus entwickelt. Deshalb hatte Zufa kurzerhand die Tochter missachtet, von der sie immer behauptet hatte, sie sich gewünscht zu haben, und Ticia auf Rossak von einer anderen Zauberin aufziehen lassen, während sie selbst ihre gesamte Aufmerksamkeit Normas Tätigkeit widmete. Und dann war Zufa zusammen mit Aurelius ums Leben gekommen.

Ticia war auf Rossak herangewachsen und hatte sich durch sämtliche mentalen Fähigkeiten ausgezeichnet, auf die ihre Mutter gehofft hatte, aber sie musste in einer Leere leben, die sie schließlich mit Groll ausfüllte. Jahrzehnte später wurde sie, genau wie Zufa Cevna, zur führenden Zauberin, aber sie entwickelte noch größeren Ernst und grimmigere Entschlossenheit als ihre Mutter. Weil Norma sich in ihre Theorien und Berechnungen vertiefte – von den VenKee-Geschäften ganz zu schweigen –, hatte sie sich nur selten die Zeit genommen, sich mit ihrer Halbschwester zu treffen. Keine von beiden hätte die andere auch nur als »Freundin« in allgemeinster Auslegung des Wortes angesehen.

Ticia sah Norma, zögerte aber nur einen winzigen Moment, bevor sie mit ihrer Rede begann. Ihre Stimme dröhnte auf eine Weise, als wäre jeder Atemzug rollender Donner. Die Kraftfülle ihres Auftretens verursachte der Versammlung Schaudern.

»Wir Zauberinnen haben Jahre hindurch unser Leben gegeben und Cymeks vernichtet, wo immer sie der Menschheit auflauerten. Etliche meiner Schwestern sind vor meinen Augen in den Tod gegangen, rissen mittels ihrer Geistesmacht Cymeks und sogar Titanen mit sich ins Verderben. Ich war bereit, das Gleiche zu tun. Ich wäre eine der Nächsten gewesen, hätte der Gegner sich uns genähert. Doch seit Jahrzehnten ist die Cymek-Gefahr immer geringer geworden.«

Brevin O'Kukovich applaudierte. »Die Zauberinnen von Rossak haben der Menschheit einen großen Dienst erwiesen.«

Ticia warf ihm einen bösen Blick zu, weil er sie unterbrochen hatte. »Sehr viele haben Gleiches geleistet. Doch nun, angesichts dieser verheerenden Epidemie, weise ich darauf hin, dass wir Zauberinnen uns auch auf anderen Gebieten auskennen. Aufgrund der harten Bedingungen unserer Heimatwelt und der viele Generationen umfassenden Geburtsaufzeichnungen verstehen wir etwas von Abstammung, dem allerwichtigsten Rohstoff des Menschengeschlechts. Sollte die Omnius-Geißel noch schlimmer wüten, könnten wir erstrangige Linien unserer Gattung verlieren. Es geht nicht nur um zahlenmäßige Verluste, sondern um Wege in die Zukunft. Während gegenwärtig auf einer Welt nach der anderen komplette Familien und ganze Städte ausgelöscht werden, können wir gar nicht früh oder nachdrücklich genug handeln. Obwohl wir selbstverständlich darum ringen, ein Heilmittel gegen diese scheußliche biologische Waffe zu finden, müssen wir gleichzeitig rigorose Maßnahmen veranlassen, um die beste DNS zu bewahren, bevor wir sie unwiederbringlich verlieren. Es gilt, einige unserer wichtigsten Gene zu schützen und zu konservieren, sonst löscht die Seuche sie vielleicht völlig aus. Ein Programm muss entwickelt werden, um die genetischen Informationen aller Bewohner sämtlicher Planeten zu erfassen.« Sie hob das Kinn. »Wir Zauberinnen haben die Kapazitäten für die Durchführung eines solchen Programms.«

Norma beobachtete die monolithische Erscheinung ihrer Halbschwester und fragte sich, welchen Vorteil sie sich darüber hinaus von einem solchen Vorschlag versprach. Die führende Zauberin war nicht als allzu mitfühlende Person bekannt, sondern verstand sich als wild entschlossene Djihad-Kämpferin.

Ticia ließ ihren leuchtenden Blick durch den Saal schweifen und sah dabei absichtlich über Norma hinweg. »Daher rege ich an, Planeten aufzusuchen, wo die Seuche noch nicht ausgebrochen ist, und gesunde Kandidaten ausfindig zu machen. Anhand von Blutproben lässt sich eine Datensammlung schaffen, durch die es möglich wäre, familiäre Attribute zu erhalten, falls es uns misslingt, die Familien selbst zu retten. Dann können wir später, wenn die Epidemie besiegt ist, diese umfangreiche genetische Bibliothek benutzen, um die Liga-Populationen zu rekonstituieren.«

Anscheinend blieben ihre Erwägungen dem Großen Patriarchen unverständlich. »Aber selbst wenn die Seuche die Hälfte aller ... jedenfalls wird es zahlreiche Überlebende geben. Ist eine so aufwändige Aktion wirklich erforderlich?«

»Wird es auch die richtige Hälfte sein, die überlebt?«, fragte Ticia, nachdem sie einen langen, ruhigen Atemzug getan hatte. »Wir müssen unsere Planung auf das Schlimmste einstellen, Großer Patriarch. Es muss gehandelt werden, ehe uns die Zeit davonrennt – so wie vor Urzeiten der alte Noah, allerdings in viel größerem Maßstab. Von jedem Planeten müssen Proben der stärksten Charakteristika besorgt werden, und zwar, bevor sich die Seuche weiter ausbreitet. Möglichst viel DNS muss konserviert werden, um eine ausreichende Diversifikation zu garantieren, die als Grundlage für die Stärke der Menschheit unverzichtbar ist.«

»Warum stecken wir nicht lieber alle Kraft in die Seuchenbekämpfung?«, rief ein Abgeordneter aufgewühlt. »Überall flammt sie auf.«

»Und was soll aus den schon befallenen Planeten werden? Auch ihnen müssen wir Hilfe schicken. Dort benötigen die Menschen am dringendsten Beistand.«

Der Große Patriarch rief die Zwischenrufer zur Ordnung. »Zurzeit findet sich ein großes Aufgebot an Freiwilligen zusammen, die auf den heimgesuchten Planeten das überforderte medizinische Personal unterstützen werden. Vielleicht können die Zauberinnen auch dort genetische Daten erheben.«

Ticia schaute den Mann an, als wäre er nicht ganz bei Trost. »Dazu ist es längst zu spät. Ein Teil der Einwohnerschaft wird überleben, aber der Genpool ist beeinträchtigt. Wir sollten unsere Anstrengungen dort bündeln, wo wir den größten Nutzen erzielen. Auf Welten, wo die Epidemie schon Fuß gefasst hat, können wir nichts mehr erreichen.«

»Also gut, also gut«, sagte der kommissarische Viceroy und blickte ostentativ auf die Uhr. »Ich wüsste keinen Grund, weshalb die Zauberinnen keinen solchen Beitrag beisteuern sollten, um den Schaden für die Liga-Welten möglichst gering zu halten. Lassen sich dafür unter Rossaks Frauen genug Freiwillige finden?«

»Mehr als genug.«

»Vortrefflich. So ... wie ich sehe, könnte der nächste Tagesordnungspunkt etwas mehr Hoffnung wecken. Es sprechen der Oberkommandierende Vorian Atreides und ... und jemand mit Namen Norma Cevna.« Offenbar wusste O'Kukovich nicht, wer Norma war, aber er hatte sich noch nie ein durch allzu verlässliches Gedächtnis ausgezeichnet. »Sie können uns neue Einzelheiten über die Anwendung von Melange gegen die Geißel nennen?«

Vorian führte Norma zum Rednerpodium, und Ticia schien sich zu ärgern, weil sie für sie den Platz räumen musste. Obwohl das Parlament den entsprechenden Bericht schon vor Wochen bekommen hatte, gab Atreides eine knappe Zusammenfassung seines Besuchs auf Parmentier und der von seiner Enkelin Raquella gemachten Entdeckung. »Nach Stellungnahmen, die von anderen Seuchenplaneten eintreffen, stimmen die gezogenen Rückschlüsse voll und ganz. Auf jeder dieser Welten gibt es unerklärliche ›Infektionslücken‹, die allesamt einen gemeinsamen Nenner aufweisen. Gewürz-Konsumenten zeichnen sich durch eine stärkere Widerstandskraft oder gar volle Immunität aus. Gewürz ist folglich nicht nur ein teures Entspannungsmittel, sondern auch eine wirksame Waffe gegen die Epidemie.«

Vorian trat beiseite, um Norma das Wort zu überlassen. Sie zögerte keinen Augenblick. »Deshalb werden wesentliche größere Melange-Mengen benötigt, die so schnell wie möglich verteilt werden müssen. Für diesen Zweck biete ich die Dienste von VenKee Enterprises an.«

»Das ist doch nur ein neuer Vermarktungstrick, um die Melange-Nachfrage anzukurbeln!«, rief ein missmutiger Parlamentarier aus der vierten Reihe. »Sie wollen Ihre Gewinne steigern.«

»Es trifft zu, dass VenKee innerhalb der Liga der Melange-Hauptlieferant ist, und ebenso, dass uns Faltraumschiffe zur Verfügung stehen, die das Gewürz schnell genug an die verseuchten Welten liefern können, um etwas zu bewirken.« Voller Erbitterung dachte Norma daran, dass die Sicherheit der ultraschnellen Raumschiffe inzwischen in bedeutendem Umfang hätte erhöht werden können, hätten nicht unsinnig ängstliche und übereifrige Liga-Bürokraten sie dazu gezwungen, die computergestützten Navigationssysteme auszubauen. Vielleicht konnte sie im Geheimen wieder einige Navigationsinstrumente einbauen lassen ... »Ich habe bereits die Anweisung erteilt«, fügte sie mit fester Stimme hinzu, »die Gewürz-Produktion von VenKee auf Arrakis zu maximieren. Im Namen meines geliebten Gatten, des Patrioten Aurelius Venport, wird VenKee als humanitäre Geste den von der Seuche geplagten Planeten Melange spenden.« Durch den Saal tönte ein dumpfes Stimmengewirr der Überraschung. Norma richtete den Blick auf den unbekannten Zwischenrufer. »Darf ich annehmen, dass dadurch jeder Verdacht beseitigt wird, wir hätten die Absicht, aus dieser Tragödie Gewinn zu ziehen?«

Mit seinem klaren Geschäftssinn hätte Adrien wahrscheinlich Einspruch gegen ihren Entschluss erhoben, mit dem Argument, dass VenKee schon genug Opfer gebracht hatte. Aber Norma war gegenwärtig nicht an Gewinnen interessiert. Nach ihrer Überzeugung handelte sie richtig.

Die Abgeordneten jubelten, ausgenommen Ticia, die jetzt in der vordersten Reihe saß. Sie beugte sich zum Großen Patriarchen hinüber und redete leise, aber mit verschwörerischem Gehabe auf ihn ein. Ihre Worte brachten die Augen des übergewichtigen Politikers zum Funkeln, und am Ende quittierte er Ticias Darlegungen mit einem energischen Nicken. Xander Boro-Ginjo stand auf und bat um Ruhe.

»Wir wissen das Angebot von VenKee zu würdigen, aber unter den aktuellen Voraussetzungen kann eine solche Geste des guten Willens keineswegs als ausreichend betrachtet werden. Nicht einmal mit übermenschlichen Bemühungen könnte ein einzelnes Unternehmen genug Gewürz produzieren, um diese Krise zu bewältigen – immer unter der Voraussetzung, dass Melange tatsächlich gegen die Omnius-Geißel schützt. Irgendwie müssen wir die Melange-Ernte um mehrere Größenordnungen erhöhen.« Er räusperte sich, und unwillkürlich verzog sich sein feistes Gesicht zu einem listigen Schmunzeln. »Aus diesen Gründen verkünde ich hiermit, dass ich zum Wohl der Menschheit und im Interesse ihres Überlebens den Planeten Arrakis für die Liga der Edlen annektiere und jedem zugänglich mache, der die Absicht und die Mittel hat, aus dem Sand Gewürz zu ernten. Jetzt wäre der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um konservativ zu sein und im Umgang mit dieser Ressource zur Sparsamkeit zu raten. Die Menschheit benötigt jedes Gramm Melange.«

Norma bemerkte, dass Ticia erfreut über diese Wendung der Dinge wirkte, als hätte sie einen Sieg errungen. In Anbetracht der Dringlichkeit der Lage konnte Norma nicht missbilligen, was der Große Patriarch tat, aber sie hoffte, dass er damit VenKee Enterprises keinen Todesstoß versetzt hatte.

Noch ahnten die Bewohner des fernen Planeten Arrakis nicht im Mindesten, was ihnen damit bevorstand.

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